COVER ME

ZUM STÜCK

 

// Uraufführung: 20. November 2004

// Gefördert durch Kunststiftung Nordrhein Westfalen, Ministerium für Städtebau und Wohnen, Kultur und Sport des Landes NRW, Bundesstadt Bonn

 

Schreien, Kreischen. Hämmernd, hüpfend. Springt immer wieder in die Luft. Kommt stampfend, Staub aufwirbelnd, wieder auf den Boden. Macht weite Schritte. Unkontrolliert, zitternd, lamentierend. Immer in Action. Rechts oder links ausbrechend. Schleudert seinen rechten Arm in schnellen Kreisbewegungen. Ist oder gibt sich in Ekstase. Verknotet den Körper. Schüttelt sich. Tanzt. Mit den Hüften wiegend. Dreht sich im Kreis. Sucht verlangend sein Publikum. Lacht. Von einer Rolle in die nächste fallend. Bunt, grell, aufblitzend: das moderne Subjekt.


Ich bin viele und alles andere gleichzeitig, überall. Die Konstitution des modernen Subjekts definiert sich durch seine Fähigkeit zur Kreation von mehreren Ichs. Dabei machte ein Subjekt der multiplen Identität schon einmal Furore: Im 19. Jahrhundert "inszenierte" es Professor Jean-Martin Charcot, der Begründer der Neurologie, in spektakulären "Hysterie"-Vorführungen in der Pariser "Salpêtrière" der Öffentlichkeit. Mit seiner "Erfindung der Hysterie" betrieb er die Fortschreibung des Mythos von der Frau als unheimlichen, rätselhaften Wesen, das die gesamte Geschichte der abendländischen Kultur durchzieht. Die Frau verkörpert in dieser Geschichte die andere Realität, die es zu beherrschen, zu vertreiben und zu therapieren galt.


Als die "Andersartigkeit" schlechthin wurden ihr immer wieder die Attribute des "Anormalen", des "Verlogenen" und "Hysterischen" zugeschrieben. Die Hysterie kann aber auch als eine verzerrte Sprache des Protests gegen die Willkürlichkeit (geschlechtlicher) Rollenzuweisungen verstanden werden. Als "Krankheit der Ichlosigkeit" verfügt sie über einen unermesslichen Fundus an theatralischen Requisiten, um die symbolische Leerstelle des Subjekts mit üppiger Maskerade zu übertünchen.


Auch die Inszenierung des modernen Subjekts, eine postmoderne Form der Hysterie, lässt sich als Entscheidung gegen die immer gleichen Bilder und Festschreibungen verstehen. Das Wechselhafte, Unbestimmte, Überraschende wirkt verlockender und verführerischer. Ich bin viele und alles andere gleichzeitig, überall und auch virtuell. Verkleidungen, auch performative Strategien, Subjektivität durch Darstellungsweisen aufzubauen, kommen daher wie Mode. Die Bühne ist öffentlich, die Strasse ein Laufsteg. Die Reflexion über die moderne Frage: Wer bin ich? führt heute ins Undefinierbare, wird Spiel ohne Ziel. Die vielen Gelegenheiten zur Erfindung individueller Erzählungen eröffnen das strategische Spiel des Versteckens.


// ZUR MUSIK

Sämtliche in der Aufführung gespielte Musiktitel sind Einspielungen mit Theremin. Die "Entdeckung" dieses Instruments für COVER ME ist - wie auch die folgenden Zitate von bekannten Theremin-Interpreten belegen - ein dramaturgischer Glücksfall für das behandelte Thema: Das Theremin ist das weltweit einzige Instrument das berührungslos total im Raum gespielt wird. Die Erfindung aus dem Jahre 1919 des russischen Physikprofessors und Radiopioniers Lev Sergeiewitch Termen ist schlicht umwerfend. Auf dem Prinzip des Schwebungssummers aufgebaut, reagiert ein Tongenerator über eine Antenne auf die elektrische Kapazität irgendeiner Masse, z.B. auf die Hand eines Instrumentalisten. Mit viel Übung gelingt es, eine Tonfolge zu denken und die Hände anstelle der Stimmbänder zu dirigieren. Die rechte Hand beeinflusst hierbei die Tonhöhe, die linke Hand die Lautstärke.

"Das Theremin ist ein singendes Instrument, man singt die Melodie mit seiner inneren Stimme." Lev Sergeiewitch Termen "... um Theremin zu spielen, muss man ein bisschen verrückt sein. (...) Schön und besonders an dem Theremin-Klang ist seine Unsicherheit, Menschlichkeit, das Zittern. Die Schwäche macht ihn stark." Lydia Kavina "Das Theremin ist ein Meta-Instrument, es zeigt, was auf dem ‚virtuellen Feld' passiert. Ich meine, es erinnert mich an das Leben: alles, was wir machen, aber nicht sehen können." Lena Kvadrat

VON UND MIT

 

Rafaële Giovanola, Bärbel Stenzenberger, Yoko Tani /// Inszenierung: Rafaële Giovanola und Rainald Endraß /// Lichtgestaltung: Marc Brodeur /// Choreographische Beratung: Antoinette Laurent, Marcelo Omine /// Musik- und Tonarrangement: Stephan Mauel /// Kostümberatung: Sabine Schnetz /// Bühnenbau: Frank Steinhöfer, Gerd Beissel und Wolfgang Waleschkowski /// Fotografie: Klaus Fröhlich /// Gestaltung: Rolf Bartsch /// Konzept und Dramaturgie: Rainald Endraß

 

 

PRESSESTIMMEN

 

 

"Der Saal ist dunkel. Drei seltsam verformte Menschenbündel liegen vor einer farbigen Lichtinstallation. Ihre Silhouetten zeichnen sich vor den bunten Quadern ab. Langsam, vorsichtig tastend strecken sie ihre Füße aus - wie eine Schnecke, die aus der Winterstarre erwacht und nun mit den Fühlern ihre Umgebung abtastet. Die Bündel beginnen ihre Körper in synchronen Bewegungen zu entknoten. (...) Nur selten kreuzten sich die Wege der Darstellerinnen, trotz Synchronie tanzte jede für sich alleine. Die Emotionen wurden durch die Lichtuntermalung noch betont, mal eiskaltes Blau, mal warmes Rot-Orange spiegelte den modernen Ausdruckstanz. Auch die Musik, die die Inszenierung begleitete, unterstrich den psychischen und physischen Wandel der Figuren. (...) Die Körper der Tänzerinnen waren von Zeit zu Zeit außer Rand und Band, sie versuchten sich selbst zu zähmen. Und dann standen sie wieder ganz starr und blickten jedem einzelnen Zuschauer emotionslos in die Augen. Ein tiefer Blick, der einem vorkam wie eine halbe Ewigkeit. Die Tänzerinnen provozierten die indirekte Kommunikation mit dem Zuschauer stets aufs Neue. Immer mal wieder ein koketter Blick. Wie sie sich auch wanden, vortasteten, zusammenfielen und wieder aufrichteten - nie verloren sie das Publikum aus dem Auge." (Gisela Hartmann, General-Anzeiger, 22. November 2004)

 

"Jedenfalls war das Theremin der Ausgang im Ballsaal, wo an der Stirnwand drei Stellagen mit Leuchtgläsern aufgebaut waren, die sich in verschiedenen Leuchtfarben und Lichtstärken illuminieren ließen. Sie mischten sich ein wie die Klänge. Oder wie die Bewegungen der zunächst im Halbdunkel vor den Scheiben hockenden drei Tänzerinnen: Außer Giovanola tanzen noch die exzellenten Bärbel Stenzenberger und Yoko Tani die hysterischen Phänomene, denen im 19. Jahrhundert Charcot in Paris und vor einigen Jahren Peter Sloterdijk auf der Spur waren. Eine hoch interessante ästhetische Demonstration. Bis sich dann die drei schemenhaften Hügel zögerlich als durchaus lebendig erwiesen. Erst bewegt sich der Fuß, dann streift er die Wade hoch. Alles das passiert zunächst synchron, später dann aber in versetzten Folgen, die wie die variierten Leuchterscheinungen in den Stellagen nach dem Prinzip von Serien in Gang gesetzt scheinen. Noch später gehen die drei Tänzerinnen auf die Zuschauer los, fixieren sie - ja, hysterisch, entlassen sie nicht aus dem Blick. Man kennt das aus den Beschreibungen hysterischer Phänomene. Auch der Stummfilm war eins. Beifall für eine ästhetisch interessante Unternehmung." (Heinz-Dieter Terschüren, Bonner Rundschau, 24. November 2004)

 

"Eine hoch interessante ästhetische Demonstration." (Heinz-Dieter Terschüren, Bonner Rundschau, 20. April 2005)